Sarah Waters
Der Besucher
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»Der Besucher« von Sarah Waters
Dr. Faraday, ein englischer Landarzt, wird an einem sommerlichen Sonntagnachmittag nach Hundreds Hall gerufen, weil ein Dienstmädchen erkrankt ist. Bei dieser Gelegenheit erinnert er sich an seinen ersten Besuch auf dem Herrensitz, als er ein Junge von zehn Jahren war. Er war schon damals von der Größe und Erhabenheit des Gebäudes fasziniert und fühlte sich von dem Haus angezogen. Deswegen ist er entsetzt, als er feststellt, dass das einstmals prächtige Anwesen inzwischen deutliche Spuren des Verfalls aufweist. Während seines Hausbesuchs lernt er auch die Bewohner, Mrs Ayres und ihre beiden Kinder Roderick und Caroline, näher kennen. Da die finanzielle Lage der Familie mehr als angespannt ist, ist von dem früheren luxuriösen Lebensstil kaum noch etwas zu spüren: Mrs Ayres arbeitet selbst im Garten, Caroline schrubbt mit dem einzigen verbliebenen Dienstmädchen die Böden und Roderick hilft beim täglichen Melken. Nach und nach wird Dr. Faraday zu einem Freund der Familie und verbringt viel Zeit auf Hundreds Hall.
Als immer wieder auftretende unerklärliche Vorkommnisse die Ayres und ihr Dienstmädchen Betty allmählich in Hysterie versetzen, behält Faraday als einziger einen klaren Kopf und versucht den Ursachen auf den Grund zu gehen.
Die Handlung des Romans ist kurz nach dem zweiten Weltkrieg angesiedelt, als der englische Landadel eine schwere Zeit durchmachte und oft auch aus finanziellen Gründen die geschichtsträchtigen Wohnsitze an reiche Ausländer verkaufen oder in Museen umwandeln musste. Dieser Niedergang wird im Buch am Rande thematisiert und war für mich sehr interessant.
Die Grundstimmung ist ziemlich düster und gedrückt, weil die Familie Ayres auf verlorenem Posten gegen den drohenden Untergang kämpft.
Das Erzähltempo von Sarah Waters ist gemächlich, sie nimmt sich viel Zeit, um Hundreds Hall vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen. Ebenso präzise entwickelt sie ihre Charaktere, die wunderbar gelungen sind. Ich konnte von der ersten Seite an in die Handlung eintauchen und mir das Haus und die Familie detailliert vorstellen. Der einzige, der ein wenig blass bleibt, ist der Protagonist Faraday. Das ist vermutlich seiner Funktion als Ich-Erzähler geschuldet - er hilft dem Leser die Ayres kennenzulernen, während man von ihm selbst nicht einmal den Vornamen erfährt, oder gar Details zu seinem Äußeren. Allerdings denke ich, dass das von der Autorin sogar so beabsichtigt ist, Faraday soll als neutrale Figur, als objektiver Augenzeuge der Ereignisse fungieren.
Mir hat dieser ruhige, behäbige Erzählstil sehr gut gefallen, denn dadurch kam erst die richtige Stimmung für die Geschichte auf. Nach eher ruhigen Passagen, in denen Faraday in völliger Normalität Haus und Park erkundet und mit der Familie Tee trinkt, wird der Leser immer wieder unerwartet mit der Schilderung eines der mysteriösen Vorfälle konfrontiert.
Allerdings gibt es sicher auch Leser, denen es zu lange dauert, bis die Handlung in Fahrt kommt oder die sich anhand des Klappentextes etwas anderes erwartet haben. Wer sich aber auf die Geschichte einlässt, wird etwa ab der Hälfte des Buches mit einem schaurig-schönen Gruselroman belohnt. Ich habe meistens alleine am Abend gelesen, und konnte mich bei schummriger Beleuchtung gut auf die ausführlich geschilderten Gänsehautszenen einlassen.
Einigen Lesern blieb anscheinend das Ende des Buches zu offen, oder sie hatten den Eindruck, die Autorin hätte keine, beziehungsweise nur eine unbefriedigende Auflösung geliefert. Das hat mich ein wenig irritiert, denn für mich war am Schluss glasklar, wie es zu den mysteriösen Vorfällen auf Hundreds Hall gekommen ist, und diese Auflösung war von der Autorin auch auf den letzten hundert Seiten sehr gut vorbereitet.
Von mir bekommt das Buch 4,5 Sterne, weil Sarah Waters es verstanden hat, die richtige Atmosphäre für ihre gut durchdachte Spukhausgeschichte aufzubauen und zudem noch interessante Hintergrundinformationen über den englischen Adel und die Nachkriegszeit einfließen zu lassen.